Diversität
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TĂĄr: Die Dirigentin als FĂŒhrungskraft.

Eine Analyse von Gender und Macht in Organisationen.

Orchester werden herkömmlich als Best Practices fĂŒr Organisationen verwendet. Die „harmonische Vielfalt“ der Instrumente und KĂŒnstler:innen wird als Blueprint fĂŒr Unternehmen gesehen, um zu zeigen, dass nur das gemeinsame, aufeinander abgestimmte Vorgehen gute Ergebnisse erzielt. Nicht zu vergessen: Die vielzitierte Vorgehensweise des Boston Symphony Orchesters, die das „blinde Vorspielen“ hinter einem Vorhang einfĂŒhrten und dadurch den Frauenanteil im Team massiv erhöhten – also eine Vorgehensweise wĂ€hlten, um Gender-stereotype Auswahlverfahren zu durchbrechen. 

Sowohl dem Beispiel als auch generell der Form der Zusammenarbeit liegen also Equality-AnsĂ€tze zugrunde: Nur wenn alle eine faire und gleichwertige Chance haben mitzuspielen, kommt es zu einem unvergleichlichen Erlebnis fĂŒr die Zuhörer:innen. Der:die Dirigent:in als kĂŒnstlerische:r Leiter:in des Orchesters wĂ€re als FĂŒhrungskraft somit jene Person die den Ton angibt, das Gemeinsame anleitet und alle integriert.  

Ein Blick hinter die Kulissen

Nicht ganz so harmonisch stellt sich die Situation im Film „TĂĄr“ mit der Hauptdarstellerin Cate Blanchett dar. Als Chefdirigentin des Berliner Orchesters arbeitet Lydia TĂĄr an einer Aufnahme von Gustav Mahlers‘ 5. Symphonie, die den Höhepunkt ihrer Karriere darstellen soll. Von sich selbst und anderen erwartet sie Höchstleistungen, isst wenig, lĂ€uft viel. 

Vor allem aus Gender-Perspektive könnte es sich daher um das PortrĂ€t einer erfolgreichen Frau handeln. Um eine, die es „geschafft hat“ - an der Spitze des Orchesters und als gefeierte Dirigentin. 

TatsÀchlich bietet der Film viel AnalyseflÀche, um das Thema Gender und Macht differenzierter zu betrachten. 

Der Beginn zeigt eine Interview-Szene mit der Protagonistin, in der sie darĂŒber spricht, dass Gender lĂ€ngst keine Rolle mehr in der Musikbranche spielt, sie selbst als der „lebende Beweis“ fĂŒr die Errungenschaften der feministischen Bewegung steht. Ein gĂ€ngiges Narrativ, das wir auch von weiblichen CEOs oft hören. Das „wenn ich es geschafft habe, schaffen es auch andere Frauen“ geht jedoch meist mit extrem hohen Anforderungen an Engagement und Einsatz der weiblichen Mitarbeiterinnen einher. Das sogenannte „Queen Bee“ – Syndrom besagt, dass weibliche FĂŒhrungskrĂ€fte mit derartigen Aussagen den existierenden Gender-Gap bei der Vergabe von FĂŒhrungspositionen negieren; Verhaltensweisen der (maskulin) dominierenden Gruppe annehmen und dadurch eher zur Verhinderung von weiblichen KarriereverlĂ€ufen beitragen als zu deren Förderung. 

So auch bei Lydia TĂĄr. Ihre  Assistentin, die Tag und Nacht Termine organisiert, den eigenen Urlaub verschiebt, der Protagonistin jeden Wunsch von den Augen abliest, wird eben nicht befördert, sondern der mĂ€nnliche Kollege. Hier macht sich jedoch Widerstand bemerkbar, den wir auch aus anderen Organisationskontexten kennen: Eine Generation, die bei diesen Machenschaften nicht mehr mitspielt. Eine junge Frau, die nach der nicht erfolgten Beförderung eben nicht einfach weitermacht, sondern: im Gegenteil - die geht. Und nicht mehr erreichbar ist. Die Dirigentin hatte die Macht, jemand anderen fĂŒr die Position auszuwĂ€hlen – und hat damit das Commitment der jungen Frau zerstört. Das „Hinschmeißen“ von Beruf und Berufung als Befund der Gen Z wenn der Einsatz nicht gewĂŒrdigt, die eigene Leistung nicht entsprechend belohnt wird? Eher handelt es sich um eine realistische Darstellung junger Menschen, die konservative Hierarchien und unfaires Verhalten nicht mehr akzeptieren.

Scheinbar beliebig werden im Orchester dann auch noch Regeln verĂ€ndert: Unter dem Aspekt des freien Wettbewerbs wird ein neues Vorspielen kreiert, das nur zum Ziel hat, eine bestimmte Cellistin zu fördern – in der Hoffnung der Hauptdarstellerin, dafĂŒr sexuelle Gegenleistung zu erlangen. Doch auch diese lĂ€sst sie links liegen, nimmt zwar die Herausforderung des Cello-Solos an – auch im Wissen, dass der Prozess nicht fair war –, verspĂŒrt aber umgekehrt keine Verpflichtung etwas zurĂŒckzugeben.

Schweigen als einzige Konsequenz

Im Sinne von MachtausĂŒbung bleibt die Darstellung des Kunst- und Kulturbetriebs schmerzhaft wirklichkeitsnah: sexuelle Übergriffe und vorherige AffĂ€ren der Protagonistin bleiben im Dunkeln. Die daraus entstandene KarriereschĂ€digung und das bewusste Diffamieren einer jungen Nachwuchskollegin, die letztendlich Suizid begeht, wird thematisiert, bleibt aber konsequenzlos. In der Praxis finden wir Ähnlichkeiten vor allem in EigentĂŒmer:innengefĂŒhrten VerlagshĂ€usern, in der Filmbranche, in Familienbetrieben – immer dann, wenn es an der Spitze eine einzige Person gibt, von der der Erfolg abhĂ€ngig ist bzw. gemacht wird, wird zu GrenzĂŒberschreitungen und Machtmissbrauch so lange geschwiegen bis es nicht mehr anders geht. 

Und tatsĂ€chlich: Man ist fast geneigt der genialen Protagonistin zu verzeihen oder ihr Dinge nachzusehen, da sie ihre Arbeit, ihre Ziele mit Leidenschaft verfolgt, tosenden Applaus erhĂ€lt und Innovation in einem traditionellen Bereich erzielt. In den entscheidenden Momenten fĂŒhrt die Kritik an Einzelleistungen, das Angst-SchnĂŒren und die fast unmenschlichen Erwartungen der Dirigentin an die KĂŒnstler:innen zum Erfolg. 

Letztendlich erlebt die Protagonistin dann doch eine schmerzhafte kĂŒnstlerische Degradierung, die als Symbol dafĂŒr verstanden werden kann, dass sich langsam aber doch Strukturen verĂ€ndern. Menschen und deren Haltungen verĂ€ndern sich - Organisationen verĂ€ndern sich mit ihnen. Kollaboration rĂŒckt in den Vordergrund, und strukturelle Macht wird nicht mehr in derselben Art und Weise akzeptiert wie noch vor einigen Jahrzehnten. 

Ist „TĂĄr“ somit ein Beitrag zum feministischen Diskurs?

Der Film zeigt uns, dass Gender keine „Dimension“ ist, die fĂŒr sich selbst steht und bei der es losgelöst um die Frage geht, ob sich eine Person als Mann, Frau oder keinem Geschlecht zugehörig identifiziert, sondern, dass die AusĂŒbung von Macht und Dominanz von Position und Rolle innerhalb einer Organisation abhĂ€ngt. Das individuelle Verhalten von Lydia TĂĄr wird nur vor dem organisationalen Hintergrund möglich und wirksam – und kann auch dort verĂ€ndert werden. Immer dann, wenn sich Organisationen zu Fairness bekennen und klare Richtlinien fĂŒr Verhalten und Zusammenarbeit definieren, kann echte Equality entstehen.

- von Marita Haas

Marita Haas beschĂ€ftigt sich mit der Frage, wie faire, innovative und inklusive ArbeitsplĂ€tze aussehen können und verfĂŒgt ĂŒber langjĂ€hrige Expertise im Bereich Gender Equality. Sie ist Unternehmensberaterin und leitet aktuell den Bereich People, Culture & Organization Advisory bei Ward Howell International. Ihr könnt ihr auf LinkedIn und Instagram folgen. 

Foto: (c) 2022 Focus Features, LLC